Meine Muse sagt:

Klassenarbeit!

Belletristik

von L. Manitas

Gestern Abend, kaum dass ich im Bett lag, hat sie mich besucht - meine Muse. Sie kommt gelegentlich vorbei, meistens, wenn ich nicht damit rechne. Nein, eigentlich immer, wenn ich nicht damit rechne!

 

Sie ist eine unzuverlässige Geliebte. Ich weiß nie, wann sie über mich herfällt und wann sie wieder entschwindet. Mal küsst sie mich, mal verlässt sie mich. Kaum ist sie fort, schon sehne ich mich nach ihr. Ist sie da, will ich sie nie wieder loslassen. Doch sie ist ein Freigeist - das muss ich hinnehmen, sonst wird sie mich für immer verlassen. Außerdem weiß ich, dass sie schwer beschäftigt ist und mindestens so viele Klienten betreut wie der Weihnachtsmann. Daher habe ich volles Verständnis, wenn sie nicht ausschließlich für mich da sein kann.

 

Meine persönliche Muse ist ganz anders, als man es sich vorstellen möchte; sie ist kein zartes, sanftes Geschöpf aus einer ätherischen Dimension. Nein, sie ist zweifellos eine Walküre, eine Domina obendrein. Wenn sie kommt, dann kommt sie gewaltig! Sie fällt über mich her, wirft sich auf mich, reißt meine Denkgewohnheiten in Stücke und herrscht mich an: »Schreib!«

 

Dann diktiert sie mir die tollsten Dinger, meistens völlig abstruses Zeug. Ich wüsste gern, ob sie mit ihren anderen Schützlingen (Opfern?) auch so umgeht wie mit mir. Doch wer weiß, vielleicht bin ich ja nur ein besonders willfähriger Kunde. ICH weiß es jedenfalls nicht.

 

Nun war es also mal wieder so weit. Sie zwang mich in ihren Bann, vergewaltigte meine zarte Künstlerseele, prügelte mir die dummen Klischees aus dem Hirn. Anschließend war sie ganz zahm und küsste mich sanft in den Schlaf, und erst danach machte sie die ganze Nacht mit mir rum. Als ich soeben aufwachte, war sie fort, doch sie hat mich mit einem Thema geschwängert. Ich fühle mich wie früher, als ich noch zur Schule ging und einer der von mir geschätzten Deutschlehrer ein Thema an die Tafel schrieb. Da sitze ich nun, das leere elektronische Blatt vor mir, und kaue versonnen am Ende meines imaginären Füllers herum.

 

Klassenarbeit: Was ist Belletristik?

 

Nun ist sie zwar fort, meine geliebte Muse, und kann mir nichts in die leeren Zeilen diktieren, aber ich habe noch den Geschmack ihrer Lippen auf den meinen. So mache ich mich mutig ans Werk.

 

Belletristik, was heißt das eigentlich? Im Lexikon finde ich an erster Stelle: schöngeistige Literatur.

 

So war es früher. Wann ist früher, vor wie vielen Jahren ging das Früher ins Jetzt über? Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ein genaues Datum auszumachen. Doch ein diffuses Gefühl und eine verschwommene Erinnerung sagen mir, dass es nicht erst gestern war!

 

Das Lexikon gibt noch andere Synonyme für den Begriff Belletristik preis: schöne Literatur und Unterhaltungsliteratur. Nun kann man sich gewiss darüber streiten, was denn »schön« oder was »unterhaltend« sei. Anhand dieses Gedankens wird mir deutlich, dass sich meine Interpretation dieser beiden Adjektive im Laufe meines Lebens verändert hat. Und es ist mir ohne weitere Reflexion einleuchtend, dass ein jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen davon hat, was für ihn »schön« oder »unterhaltend« ist.

 

Eigentlich müsste ich einen Literaturwissenschaftler oder hilfsweise einen Soziologen bitten, mir diese Begriffe in Tütchen fein abgepackt über die Theke meiner Unwissenheit zu reichen. Doch befürchte ich, dass dann die unausweichliche Suggestivfrage kommt: »Darf's ein bisschen mehr sein?«

 

Nein, darf es nicht! Ich will es schlicht, ich will es »auf den Punkt gebracht«. So bleibt mir nur eins: Ich muss mir meine eigenen Gedanken machen, meine persönlichen Vorstellungen zu Papier bringen.

 

Im Lexikon steht noch, dass der Begriff Belletristik aus dem Französischen kommt, »belles lettres« und angeblich »schöne Literatur« bedeutet. So weit war ich ja schon. Wenn mich meine Grundkenntnisse des Französischen nicht trügen, ist die wörtliche Übersetzung allerdings: »schöne Buchstaben«. Es könnte also durchaus sein, dass das Schriftbild gemeint ist. Texte, die in schöner Handschrift oder, seit der Erfindung des Buchdrucks, in schönen Lettern abgebildet sind. Das würde aber auch bedeuten, dass es gar nicht auf den Inhalt ankommt. Eine in schöner Schrift verfasste Einkaufsliste wäre - dieser Logik folgend - ebenfalls »Belletristik«.

 

Ja, ich weiß schon, im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte gibt es für viele Begriffe eine fast schon natürlich zu nennende Bedeutungsverschiebung. So kann es durchaus sein, dass sich die ursprüngliche Bedeutung von »belles lettres« vom reinen Aussehen in Richtung Inhalt verschoben hat.

 

Doch damit fangen die Probleme erst richtig an. Wer beurteilt denn, ob ein Text inhaltlich »schön« ist? Wird das demokratisch gemacht, ist es also die Masse, der Pöbel, das Volk? Oder sind es lediglich einige wenige Vordenker, die stets und ständig vorausdenken und uns anderen, den Hinterherdenkern (oder Nichtdenkern) sagen, welchen Text wir »schön« zu finden haben und welchen nicht? Intellektuelle zum Beispiel oder Wissenschaftler? Oder gar noch schlimmer, Juristen und Politiker?

 

Eines ist gewiss: die Nazis erachten andere Texte für schön als die Nicht-Nazis. Wer hat denn dann recht? Doch so weit will ich mich nicht in die Polemik wagen, zum einen, weil mich das überfordert und zum anderen, weil mir dafür die Qualifikation fehlt.

 

Ich halte mich mal an die Fachleute: Literaten, Verleger, Kritiker. Die müssen es doch wissen. Und in der Tat, in Fachkreisen wird deutlich unterschieden zwischen Belletristik und Sachbuch. Bei den Begriffen »Lyrik« und »Dramatik« streiten sich sogar die Fachkräfte, aber überwiegend scheint die Meinung zu herrschen, diese seien, wohlwollend formuliert, Sonderfälle der Belletristik, die aber ansonsten nichts darin zu suchen hätten. So wie der spinnerte Cousin, der zwar zur Familie gehört, mit dem aber eigentlich keiner etwas zu tun haben will.

 

Ich bleibe mal am Begriff »Sachbuch« hängen. Wenn das nicht belletristisch ist, dann kann es ja auch nicht »schön« oder »unterhaltsam« sein. Sagt meine Logik. Schon regt sich heftiger Protest unter meiner Schädeldecke. Ich habe nämlich viele Sachbücher gelesen, die mich ungleich mehr unterhalten haben, als die meisten der »Unterhaltungsromane«, die mir bisher in die Finger geraten sind, und das sind nicht wenige (pro Jahr etwa 30)!

 

Gut, Geschmackssache. Mag sein.

 

Dennoch erlaube ich mir, oder bin so anmaßend zu behaupten, dass auch der Inhalt nicht zwangsläufig zu einer deutlichen Begriffserklärung hinsichtlich »Belletristik« führt. Was kann mir denn überhaupt helfen, mich aus dieser unvollkommenen Wissenslage und meinem Definitionsdilemma zu befreien? Wer erklärt mir, ob die Bibel ein Sachbuch ist oder zur Belletristik gehört? Was unterscheidet einen unterhaltsam geschriebenen Reiseführer von einer in langweiligem Stil verfassten Reiseerzählung?

 

In diesem Moment kommt mir ein Gedanke: »Wozu brauche ich denn diese Unterscheidungen?«

 

Als Leser benötige ich sie nicht, da lese ich einfach den Klappentext und die erste Seite eines Buches und entscheide, ob mich der Text, der Roman, das Sachbuch oder WAS AUCH IMMER interessiert. Bei einer Kurzgeschichte oder einem Zeitungsartikel reicht mir der erste Absatz, um mein Urteil zu fällen. Was schert es mich also, in welche Schublade der jeweilige Text gehört?

 

Als Autor hat es mich aber sehr wohl zu interessieren! Schließlich wird, wenn ich ein Exposé und eine Leseprobe einreiche, stets von mir verlangt, ich möge mich vorher über das Themengebiet des jeweiligen Verlages informieren. Da gibt es die tollsten Kombinationen! Manche verlegen nur Sachbücher, andere nur Belletristik (außer Science-Fiction und Fantasy), wieder andere nur literarische Belletristik (was auch immer das sein soll) oder belletristische Literatur - und so geht das munter weiter. Als einreichender Autor muss ich also immer genau wissen, was ich schreibe, bis in die kleinste Schublade muss ich mich auskennen. Schreibe ich einen Roman, ein Kochbuch, ein technisches Handbuch? Das ist noch einfach; schwieriger wird es, wenn ich an einem Kurztext, wie diesem hier, arbeite. Ist das ein Aufsatz, eine Abhandlung, ein Essay, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte ODER WAS? Gehört das im weitesten Sinne noch zur Belletristik oder ist es schon ein Sachtext? Oft weiß ich es nicht, schließlich bin ich kein Wissenschaftler, kein Germanist, kein Journalist. Ich bin einfach nur Autor - ich habe Gedanken und schreibe sie nieder. Meine Gedanken. Wenn die Fachleute meine Gedanken nicht lesen wollen, gut, damit kann ich leben, aber warum zwingt man mich, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob ich in der Belletristik unterwegs bin oder ganz woanders?

 

Bereits zu Beginn eines neuen Textes bin ich daher schon ziemlich verkrampft, weil ich darauf schiele, in welchem Bereich und welchem Genre ich mich bewege, bewegen muss. Wissen diese (Fach-)Leute denn nicht, dass sich die Ergebnisse der Musenküsse nicht in ein Korsett pressen lassen, und dass, wenn man es doch tut, die Fantasie dabei erstickt wird?

 

Doch halt! Was tue ich hier? Da bin ich doch glatt in die Falle getappt und versuche mich an einer pseudowissenschaftlichen Analyse des Begriffs Belletristik.

Das ist doch Quatsch!

Im Grunde weiß ich, worum es geht und ich kenne auch den Unterschied zu Sachtexten. Was mich eigentlich antreibt, ist die Bedeutung. Nehme ich die »belles lettres« wörtlich, so geht es mir darum, meine persönliche Einstellung zu allerlei Geschriebenem zu finden. Was halte ich zum Beispiel von einem Roman, der in der Abteilung Belletristik zu Hause ist, aber nach meinem Dafürhalten nichts Schönes aufweist? Was halte ich von einer Kurzgeschichte, die durch übermäßigen Gebrauch von unpassenden Metaphern künstlich auf eine bestimmte Textlänge aufgeblasen wird? Davon gibt es Tausende, Hunderttausende, sogar von mit Orden und Ehrenzeichen versehenen sogenannten Schriftstellern, denen von (Möchtegern-)Intellektuellen und Berufsgermanisten ein außergewöhnliches Talent bescheinigt wird.

 

Nichts halte ich davon, gar nichts!

 

Was halte ich von Begriffen, welche, bei Licht betrachtet, den Tatbestand des groben Unfugs erfüllen und von Fachleuten, die es ja nun besser wissen müssten, in die Welt gesetzt werden? Als Beispiel diene hier der, oben schon einmal kurz erwähnte, von einer angesehenen Literatur-Agentur (den Namen verschweige ich hier) schamlos verwendete Begriff »belletristische Literatur«.

Das ist ein weißer Schimmel, liebe Leute, wenn man »belletristisch« einmal wörtlich nimmt. »Belles lettres« heißt, wie bereits gesagt, »schöne Buchstaben«. Das Wort Literatur leitet sich vom lateinischen »litera« ab, was ebenfalls Buchstabe heißt. Wie müsste man dann »belletristische Literatur« übersetzen oder übertragen? »Schönbuchstabige Buchstaben« etwa? Das wäre zu kurz gegriffen, sicherlich. Denn Literatur ist ja laut Lexikon bereits das gesammelte (schriftliche) Werk eines Volkes oder einer Epoche, darin enthalten auch schon die »schöngeistigen Werke«. Auch bei dieser Definition beißt sich der weiße Schimmel kräftig in seinen eigenen Schwanz, wenn Fachleute (!) von belletristischer Literatur sprechen. Doch muss ich gar nicht erst die lateinische Sprache bemühen, denn weiter oben nannte ich bereits die offizielle Definition für Belletristik: schöngeistige Literatur. Jemand, der also belletristische Literatur vertritt, befasst sich folglich mit schöngeistiger Literatur-Literatur.

 

Sei es, wie es sei, mich interessiert dieser Quark nicht. Oder nicht mehr. Mir ist es egal, was ich lese und mir ist es ebenfalls egal, um welches spezielle Genre es sich handelt. Einzig und allein entscheidend ist für mich, ob es mich unterhält, in welcher Form, in welchem Genre auch immer.

 

Da bliebe noch der Umstand, dass ich mich als Wortdrechsler an gewisse ungeschriebene Regeln und Gesetze halten muss. Worüber schreibe ich, worüber möchte ich schreiben? Befolge ich die überkommenen Regeln oder gehe ich meinen eigenen Weg? Ich bin sicher: Wie man es macht, man macht es falsch. Die Entscheidung über die Qualität des von mir Verfassten treffe nicht ich! Diese Entscheidung wird von einigen wenigen Leuten der Literaturszene getroffen, da muss ich mir nichts vormachen. Der Leser? Hat der ein Wörtchen mitzureden? Ich bezweifle das. Mag sein, dass der Leser - oder sollte ich besser sagen: »die Masse der Konsumenten«? - indirekt beteiligt ist. Letztlich sind es aber immer einige mächtige graue Eminenzen, die über Wohl und Wehe nicht nur eines Manuskripts, sondern gar über den Verfasser im Ganzen entscheiden. Sie sind nicht mächtig per Geburt oder Persönlichkeit, sondern lediglich, weil sie irgendeine Woge des Mainstream in eine Schlüsselposition gespült hat.

 

Es sind dies die Verlagslektoren und seit ein paar Jahren auch die Literaturagenten.

 

Deren Macht über einzelne Autoren ist so groß, dass ein Kopfnicken, ein Zucken des Zeigefingers, eine kleine, beiläufige Handbewegung über die Zukunft eines Werkes und seines Verfassers - und in allerletzter Konsequenz sogar des gesamten Literaturbetriebes - entscheiden kann. Sind diese Menschen sich ihrer Verantwortung bewusst, die mit ihrer Macht einhergeht?

 

Das kann man nur hoffen.

 

Umso bedeutender ist das Auftreten dieses Personenkreises in der Öffentlichkeit. Heutzutage ist die Internetpräsenz eine wichtige Visitenkarte, und man sollte erwarten können, dass die Webseiten zum Beispiel einer Literatur-Agentur in einwandfreiem Deutsch verfasst wurden. Doch dem ist leider nicht immer so. Stil, Grammatik und Rechtschreibung weisen dort oft haarsträubende Fehler auf, die mich sowohl am Verantwortungsbewusstsein als auch an den Fähigkeiten dieser Leute zweifeln lassen. Dies gilt gleichermaßen für viele Literaturzeitschriften und sogar für manche Verlagsseiten.

 

Wenn man nun berücksichtigt, dass die für die Fehler verantwortlichen Leute Entscheidungen über zu veröffentlichende Werke treffen, dann bleibt nach einer langen Kette von Schlussfolgerungen nur eine finale Erkenntnis übrig: Hier schlagen wieder einmal geldgierige Seilschaften zu. Und uns, den dummen, ungebildeten Lesern sagen sie, was wir unter guter Literatur und im weitesten Sinne Belletristik zu verstehen haben, damit wir den billig produzierten Schrott auch gefälligst kaufen.

 

Von den circa 30 Büchern, die ich im Jahr lese, ist vielleicht, mit viel Glück, ausnahmsweise gerade mal eines wirklich lesenswert. Schöngeistige Literatur in diesem Wust von Müll ausfindig gemacht zu haben ist schon fast so viel wert wie ein Sechser im Lotto. Hoch angesehene und hochdekorierte Schriftsteller, die ihre Texte mit hohlen Metaphern, reichlich Geschwurbel und jeder Menge Selbstverliebtheit vollstopfen, werden gehegt und gepflegt. Nicht, weil sie gut schreiben, sondern weil sie gut zu vermarkten sind.

 

Danke, ihr Vollspacken, aber Scheiße bleibt Scheiße, egal, wie viele Orden und Auszeichnungen man ihr anpappt.

 

Und so bleibt nur noch das Fazit: Belletristik hat es einmal gegeben, gibt es vielleicht immer noch, aber der Literaturbetrieb ist um eine weitere Sparte zu erweitern.

 

Ich nenne sie schlicht »Maletristik« und meine damit nicht die Groschenromane!

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